Sportschau berichtet über Para-Sport: Die Inklusion steht dem Nachwuchs im Weg

Dem deutschen Para-Sport gehen zu viele Talente durchs Netz. Der Deutsche Behindertensportverband will mit einer Webseite Orientierung bieten. Doch ausgerechnet die allseits gewollte Inklusion macht dem paralympischen Sport das Leben schwer.

© Uwe Miserius

Von Dorian Aust, erschienen auf  Sportschau.de am 02.03.2021

Als Annika Zeyen 14 Jahre alt war, stürzte sie vom Pferd – die Wirbelsäule war komplett durchgebrochen. Seitdem sitzt Zeyen im Rollstuhl. Seitdem hat sie aber auch drei paralympische Medaillen mit der deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft gewonnen (1x Gold, 2x Silber) und weit über 300 Länderspiele bestritten.

Angefangen hat diese paralympische Erfolgsgeschichte in der Reha in Koblenz. Dort lernte sie Menschen kennen, die auch im Rollstuhl sitzen. Sie lernte, selbst mit dem Rollstuhl umzugehen, ihren neuen Alltag zu bestreiten, und sie lernte aus dem Rollstuhl heraus Körbe zu werfen.

Stillstand im Reha-Sport

Wenn paralympische Athleten von ihrem Karriereweg berichten, steht am Anfang ein Unfall, eine Verletzung beim Militär, eine angeborene Erkrankung oder Einschränkung. Darauf können Reha-Maßnahmen, Behandlungen oder aber einfach der normale Schulalltag folgen. Es gibt nicht den einen Weg in den Para-Sport.

Annika Zeyens Weg ist aktuell aber kaum möglich, denn Reha-Sport für Kinder und Jugendliche fällt auf Grund des Lockdowns derzeit weg, so der Vizepräsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS) Dr. Karl Quade. "Das ist nicht zu kompensieren, da sind wir benachteiligt", erklärt Quade gegenüber der Sportschau.

Neue Webseite für mehr Sichtbarkeit

Aber auch darüber hinaus besteht Nachholbedarf in der Nachwuchs- und Jugendarbeit im deutschen Para-Sport. "Wir sind nicht schlecht aufgestellt, aber auch nicht wirklich gut", sagt Quade. In einigen europäischen Ländern funktioniere die Nachwuchsarbeit derzeit besser, vor allem in Großbritannien, den Niederlanden und in den skandinavischen Ländern.

Eine neue Webseite des DBS soll Abhilfe schaffen. Die neue Internetpräsenz soll Menschen mit Beeinträchtigung dabei helfen, ihren Weg in der Para-Sport zu finden. Viele Kinder und deren Eltern wüssten nämlich gar nicht, welche Möglichkeiten es im Para-Sport überhaupt gibt. Man müsse Aufklärungsarbeit leisten, welche Sportarten und Vereine für welche Einschränkung geeignet seien, heißt es vom DBS.

Sieben Talentscouts in Deutschland

In Nordrhein-Westfalen geht man seit 2019 einen anderen Weg: Der Behinderten- und Rehabilitationssportverband in NRW stellte einen eigenen Talentscout ein. Lina Neumair leistet seitdem vor allem Aufklärungsarbeit.

Sie kontaktiert Vereine, Kliniken, Reha-Zentren und Schulen, um auf den paralympischen Sport aufmerksam zu machen: "Es ist vor allem erstmal wichtig, die Kinder in den Sport zu bringen", so Neumair. "Aber das ist ein mühsamer Prozess, der sehr lange dauert." Das Potenzial ist dennoch groß.

Aber wie kommt man an die Kinder? Vor allem an den Schulen beiße sie sich die Zähne aus, so Neumair. Die Ursachen sind verschieden: Unwissenheit, Datenschutzbedenken oder das fehlende Engagement von Lehrern. "Aber ganz klar: Ausnahmen bestätigen die Regel", relativiert Neumair. Das Modell in NRW scheint sich trotzdem durchzusetzen, mittlerweile haben sechs weitere Landesverbände Talentscouts eingestellt.

Inklusion macht das Leben schwer

Auch der Para-Triathlon Bundestrainer Tom Kosmehl hat schon seine Erfahrungen mit den Schulen gemacht. "So kurios sich das anhört: Die gelebte Inklusion an den Schulen macht die Arbeit der Talentscouts deutlich herausfordernder", so Kosmehl. Kinder mit Einschränkungen lernen und treiben Sport an regulären Schulen. So würden sie durchs Raster gehen. "Wir alle suchen eigentlich immer nach der Nadel im Heuhaufen", sagt Kosmehl.

Bei Athleten im Rollstuhl und mit Sehbehinderungen sei die Talentsuche kein Problem. Durch gute Zusammenarbeit mit Reha-Zentren und Blindenschulen würden fast 100 Prozent der Betroffenen abgedeckt, so DBS-Vizepräsident Quade. Aber "beim großen Rest" gebe es kein einheitliches System.

"Aufpassen, dass das Interesse am Sport nicht verloren geht"

Pandemiebedingt ruht der Nachwuchssport abseits der Bundes- und Landeskaderathleten allerdings. Mit Online-Trainings und Challenges versuchen viele Trainer Ersatz zu bieten. "Wir müssen aufpassen, dass das Interesse am Sport nicht verloren geht", so NRW-Talentscout Neumair.

Pandemie hin oder her: Der Erfolg der Arbeit heute wird erst in vielen Jahren zu bewerten sein: "Bis Paris 2024 wird das noch nicht systematisch Früchte tragen", sagt Tom Kosmehl. "Ich denke, dass wir das eher ab 2028 nach den Paralympics in Los Angeles bewerten können."

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